Das Leben aus Sicht der Katze

Auszug aus dem Buch „Katzenhaltung mit Köpfchen – Für ein rundum glückliches Katzenleben“ von Christine Hauschild

Das Leben aus Sicht der Katze

Lebensraum Wohnung

Stelle dir bitte einmal kurz, aber bildhaft deine Traumwohnung vor: Sie ist groß und ganz nach deinem Geschmack eingerichtet. Sie hat eine extrem gemütliche Sofaecke mit Kamin, einen schön platzierten Tisch zum Essen und Spielen, eine tolle Küche, um leckere Speisen zu zaubern. Überall hast du flauschige Teppiche, die sich ganz toll unter den Füßen anfühlen, oder von mir aus auch Stäbchenparkett, falls dir das lieber ist. Vielleicht hast du nicht nur eine Badewanne, sondern auch noch ein kleines Trimm-Dich-Gerät. Du hast neben einem Bücherregal und einer Spielesammlung bestimmt einen Fernseher, vielleicht auch einen DVD-Player und eventuell sogar eine Spielekonsole.

Und jetzt stell dir vor, du lebst in dieser Wohnung – und du darfst sie bis ans Lebensende nicht mehr verlassen. Diese Wohnung ist dein Lebensraum. Leider hast du kein Internet und kannst keine neuen Bücher, DVDs oder Spiele für die Konsole bestellen. Du kannst nur die bereits vorhandenen lesen oder ansehen. Und im Fernsehen läuft auch nur ein merkwürdiger Kanal, in dem immer wieder die gleichen Sendungen gezeigt werden. Um Geld brauchst du dir keine Sorgen zu machen, arbeiten war gestern. Wenn etwas kaputt geht, taucht dieser Gegenstand einfach nagelneu wieder auf. Die Vorratsschränke sind immer voll – mit jeder Menge Fertiggerichten. Du brauchst also noch nicht einmal zu kochen, und über den Einkauf musst du auch nicht nachdenken. Wie lange kannst du dieses faule Leben genießen?

Verändern wir dieses Szenario leicht: Es lebt noch jemand mit dir in dieser Wohnung. Diesen „Jemand“ magst du gern, er spricht allerdings deine Sprache nicht. Dafür hat Jemand die Kontrolle über die Fertiggerichte und über die An-Knöpfe für sämtliche Unterhaltungsmedien. Es gibt Tage, an denen Jemand sehr liebevoll zu dir ist, mit dir spielt und deinen Rücken massiert. An anderen Tagen kommt er gar nicht nach Hause oder beachtet dich kaum, während er in seine eigenen, sehr merkwürdigen Tätigkeiten vertieft ist. Manchmal bringt Jemand dir einen neuen Film mit, manchmal überrascht er dich mit einem neuen Buch. Aber manchmal macht er für drei Wochen am Stück den Fernseher noch nicht einmal für einen alten Schinken an. Wie fühlst du dich?

Die Haltung von Katzen in reiner Wohnungshaltung ist noch ein vergleichsweise neues Phänomen, nachdem sie als Hofkatzen längere Zeit eher in der Nähe der Menschen gelebt haben. Als typische Hofkatze hatte die Katze nur begrenzten Zugang zum Wohnraum der Menschen und lebte stattdessen mit ihrer Katzengruppe in erster Linie auf dem gesamten Hof mit Zugang zu Scheunen und Ställen. Für die Erledigung ihrer Aufgabe als Mäusejägerin erhielt sie zusätzlich von den Menschen etwas Futter.

Heutzutage lebt der Großteil der Katzen in Deutschland in Häusern und Wohnungen ohne Freigang. Das Leben einer Wohnungskatze ist grundverschieden von dem einer Hofkatze. Betrachte die Hauptunterschiede zwischen dem Alltag der traditionellen Hofkatze und dem der „modernen“ Wohnungskatze.

Unterschied Nr. 1: Die Wohnungskatze ist arbeitslos.

Freilebende Katzen verbringen einen großen Teil ihrer wachen Zeit mit Jagd und Erkundung. Sie besuchen verschiedene Stellen ihres Reviers und schauen nach dem Rechten. Hat sich etwas verändert? Was ist das für ein Geruch? Zu wem gehört diese Markierung hier? Und sie halten Ausschau nach potentieller Beute. Wird diese erspäht oder gehört, beginnt die manchmal rasante, aber häufiger viel Zeit in Anspruch nehmende Jagd. Eine Katze kann stundenlang gespannt lauernd vor einem Mauseloch ausharren, wenn sie daraus ein verdächtiges Geräusch wahrgenommen hat. Sie kann lange damit zubringen, Vögel zu beobachten und auf den richtigen Moment zum Sprung warten. Und in der Regel braucht sie auch noch sehr viele Versuche, bis der Sprung dann zum Erfolg führt. Auf dem Heimweg gibt es wieder viel zu sehen, viel zu riechen, viel zu hören.

Im Leben einer normalen Wohnungskatze gibt es keine echten Beutetiere zu belauern und zu erjagen. Eine Ausnahme bilden vielleicht die eine oder andere verirrte Motte oder Fliege, wenn die Menschen so nett waren, die Fenster offen zu lassen. Der Job, den unsere Katzen also perfekt beherrschen und für den sie ein absolutes Naturtalent haben, ist auf dem Arbeitsmarkt für Wohnungskatzen nicht verfügbar (falls du jetzt die Idee hast, deiner Katze lebende Beute mit nach Hause zu bringen, ehrt dich das. Es ist aber aus tierschutzrechtlichen Gründen zum Glück verboten und deshalb keine geeignete Lösung.) Auch für die zweite typische Beschäftigung die Erkundung, gibt es in der Wohnung keine Verwendung. Wenn man tagein tagaus in den gleichen vier Wänden lebt, kennt man sie sehr schnell auswendig. Es passieren im Alltag meist wenig spannende Dinge und es tauchen nur wenige neue Reize auf, die wirklich eine ernsthafte Erkundung wert sind. Stattdessen gibt es einfach NICHTS zu tun und Frau Katz und Herr Kater leiden unter Langeweile.

Unterschied Nr. 2: Keine Kontrolle über die Nahrung

Freilebende Katzen spezialisieren sich nicht selten auf bestimmte Beutetiere. Mäuse bilden natürlich normalerweise, wenn vorhanden, die Hauptnahrungsquelle. Aber die Geschmäcker sind durchaus verschieden: Einige Katzen fressen gerne Schnecken, andere Eidechsen und wieder andere schwören auf Insekten. Unterschiedliche Beutetiere erfordern auch unterschiedliche Jagdtechniken und sind mit mehr oder weniger Risiko verbunden. Manche Katzen lieben den Nervenkitzel und versuchen ihr Glück auch bei Ratten, großen Vögeln oder Kaninchen. Andere lassen die Pfoten von allem, was größer ist als eine Maus oder sich auch nur ansatzweise wehrhaft zeigt. Das jeweilige Vorkommen verschiedener Beutetiere bestimmt natürlich, was der freilebenden Katze grundsätzlich in ihrem Lebensraum als mögliches Beuteobjekt zur Verfügung steht. Was genau die Katze dann aber erjagt und verspeist, ist ihre freie Entscheidung. Das Gleiche gilt natürlich für den Zeitpunkt der Jagd. In der Wohnung lebt die Katze in einem vermeintlichen Schlaraffenland. Sie braucht sich nicht zu plagen, sondern bekommt das Futter serviert. In welcher Form dies geschieht, wie oft und zu welchen Zeiten, darüber hat die Katze allerdings keine Kontrolle. Dies gilt auch für viele andere Annehmlichkeiten.

Unterschied Nr. 3: Die Größe des Reviers

Das Revier von Katzen lässt sich in zwei Zonen unterteilen: In der Kernzone befinden sich die verschiedenen Schlafplätze und Futterstellen sowie im Fall von unkastrierten Kätzinnen das Nest. Jenseits der Grenzen dieser Kernzone beginnt das Streifgebiet der Katzen, das den zweiten Bereich ihres Reviers bildet. Hier unternimmt die Katze Erkundungsausflüge und geht auf die Jagd. Kernzone und Steifgebiet bilden zusammen das Revier. Die Streifgebiete verschiedener Katzenreviere können sich überlappen und werden häufig zeitlich aufgeteilt.

Verschiedene Studien haben sich mit der Größe von Kernzonen und Streifgebieten beschäftigt und mit der Frage, ob und mit wem diese geteilt werden. Eine Studie mit freilebenden europäischen Bauernhofkatzen hat als kleinste Kernzone einen Bereich von 0,1 ha, also etwa 1.000 qm ausgemacht. Dies entspricht zum Beispiel einer Fläche von 30 x 35 Metern, auf der sich die Katze absolut heimisch fühlt und sichere Schlaf- und Fressplätze nutzt. Die größte gemessene Kernzone erstreckte sich über 4.500 qm – dies gleicht einer Fläche von etwa 65 x 70 Metern. Und bei diesen Flächenangaben sind die Streifgebiete, die ja ebenfalls zum Revier gehören, noch gar nicht eingerechnet. In der Studie wurde gezeigt, dass die Tiere außerhalb der Kernzone regelmäßig von 100 bis 1.000 m zurücklegten. Potente Kater nehmen noch viel weitere Wege auf sich, um fortpflanzungsbereite Kätzinnen aufzusuchen.

Nach Angaben des statischen Bundesamts beträgt die durchschnittliche Fläche je Wohneinheit (Eigentum und Miete) in den neuen Bundesländern 77 Quadratmeter und in den alten Bundesländern 90 Quadratmeter (Stand Januar 2011). Diese Wohnungen sind dann in der Ausdehnung zum Beispiel etwa 8 x 10 oder 9 x 10 Meter groß. Im Vergleich zur kleinsten gefundenen Kernzone europäischer Bauernhofkatzen mit ca. 1.000 Quadratmetern sind unsere Wohnungen also winzig. Und für unsere Wohnungskatzen muss die Wohnung Kernzone und Streifgebiet abdecken, also wirklich ihren ganzen Lebensraum.

Es wurde in verschiedenen Studien auch untersucht, ob Kernzonen von mehreren Katzen geteilt werden: Dies ist in der Regel der Fall, und zwar sind es meist miteinander verwandte Kätzinnen, die sich diesen wichtigen Lebensraum teilen. Kater gehören manchmal auch dazu, bewegen sich aber eher am Rand der Gruppe – zum Ausgleich gehören manche Kater dafür offenbar gleich mehreren Katzengruppen an, zwischen deren Revieren sie hin und her wechseln. Ob die Kernzone geteilt wird und wie groß die Gruppe sein darf, ist maßgeblich abhängig von der Menge der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Ganz zentral ist dabei natürlich die Versorgung mit Futter. Werden die Ressourcen knapp, muss jemand gehen. Die höchste Katzendichte, also die höchste Zahl von Katzen auf einer bestimmten Grundfläche, wurde in einer Großstadt gemessen, und zwar in Jerusalem. Hier teilten sich 28 Katzen einen Hektar Fläche (100 x 100 m = 10.000 qm).

An dieser Stelle möchte ich jetzt ein bisschen mit dir rechnen: Wenn wir uns diese vergleichsweise sehr eng miteinander lebenden 28 Katzen auf 10.000 qm anschauen, wie viele von ihnen leben dann umgerechnet auf einer Fläche, die unseren durchschnittlichen Wohnungsgrößen entspricht? In unserer westdeutschen 90 qm großen Wohnung würden demnach 0,25 (28:10.000×90) Katzen, in der ostdeutschen, 77 qm großen Wohnung 0,22 (28:10.000×77) Katzen leben.

Eine Viertelkatze pro Wohnung? Gehen wir noch mal einen anderen Weg. Nehmen wir an, dass in jedem Katzenhaushalt durchschnittlich zwei Katzen zusammenleben. Wie viele Katzen hätten wir dann bei einer Hochrechnung von den durchschnittlichen Wohnungsgröße auf einen Hektar Wohnfläche? 222 Katzen auf 10.000 qm in den alten und 263 Katzen in den neuen Bundesländern (2/90 x 1.000 bzw. 2/77 x 1.000). Weil ein Hektar für die meisten von uns eine sehr abstrakte Größe ist, habe ich von zwei Katzen auf 90 qm noch einmal hochgerechnet auf verschiedene Flächen in Deutschland. Aus Hamburg kommend beginne ich mit dem Hamburger Stadtpark: Dieser umfasst ca. 150 Hektar und bei zwei Katzen je 90 qm würden 39.500 Katzen in ihm leben. Unvorstellbar! Ich mag Katzen wirklich gerne, aber in diesen Park würde ich keinen Fuß mehr setzen. Hier einige weitere Beispiele quer durch die Republik:

Hannover Tiergarten 29.500 Katzen
Berliner Tiergarten 44.500 Katzen
Englischer Garten in München 82.900 Katzen
Helgoland plus Düne 37.800 Katzen
Insel Rügen 21.688.900 Katzen

 

Und im Kölner Dom schließlich würden wir 178 Katzen vorfinden. Man kann mit einiger Sicherheit behaupten, dass freilebende Katzen niemals so eine relative Enge und Nähe zueinander wählen würden. Und ich möchte daran erinnern, dass ich den großzügigsten Durchschnittswert herangezogen habe, nämlich die westdeutsche 90 qm-Eigentumswohnung (und nicht die 64 qm-Mietwohnung in den neuen Bundesländern).

Das Lesen dieser letzten Seiten war wahrscheinlich nicht sehr angenehm, denn diese Art der Betrachtung der Wohnung als Lebensraum einer Katze bietet eine neue Perspektive auf die Lebensbedingungen, die wir unseren Katzen anbieten. Ich möchte dich damit aber nicht zu Kurzschlussreaktionen und unüberlegten Handlungen veranlassen. Stattdessen geht es mir darum, dass wir würdigen, welche unglaublichen Anpassungsleistungen unsere Katzen vollbringen, wenn sie sich in diese beengten Verhältnisse einpassen. Und ich möchte die absolute Notwendigkeit dafür aufzeigen, die Wohnungen so katzengerecht wie nur möglich zu gestalten und den Katzen artgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten anzubieten. Dies ist die Voraussetzung für eine gewisse Lebensqualität für unsere Katzen, dient der Vermeidung von Verhaltensproblemen und ist die Bedingung dafür, dass Lernprozesse stattfinden bzw. gestaltet werden können.